Ach, Marseille.
- alisalomon
- 7. Apr. 2024
- 3 Min. Lesezeit

Marseille. Wie ist diese Stadt? Zunächst einmal muss man sagen, dass sie etwas Magisches hat. Seit vielen Jahren arbeite ich dort und nehme täglich den langen Weg zur Arbeit auf mich. Das frühe Aufstehen ist unvermeidlich, denn ab 7 Uhr ist der Verkehr bereits dicht. Doch jedes Mal, wenn ich auf der A 55 in die Stadt fahre und an die Stelle komme, von der aus man einen atemberaubenden Blick auf das Meer und den Hafen hat, wo die großen Fähren nach Korsika und Afrika anlegen, überkommen mich Glücksgefühle. Es ist ein Segen, dieses Panorama täglich zu sehen und in dieser wundervollen Stadt arbeiten zu dürfen.
Eine Stadt am Meer hat ja immer etwas Besonderes. Marseille erstreckt sich entlang der Küste und wird im Hinterland von felsigen Gebirgen begrenzt. Das Klima ist mediterran, und man findet viele tolle Orte zum Baden. Während meines Referendariats war ich regelmäßig in einem Institut im Viertel "Roucas Blanc" tätig. Die Gegend ist wirklich wunderschön. Auf Hügeln gelegen, findet man dort viele kleine, urtümliche Villen, die einen fast nach Italien versetzen. Marseille beherbergt mehrere solcher charmanten Viertel. Auch hat sich in der Stadt in den letzten Jahren viel getan, und es gibt immer mehr Ecken, wo sich eine moderne Bohème angesiedelt hat, die hippe Läden und tolle gastronomische Restaurants eröffnet hat. Dennoch ist diese Entwicklung eher punktuell.
Marseille hat nämlich auch eine andere Seite. Die Seite, die viele gerne als trendy und cool darstellen würden, ähnlich wie es in Berlin-Neukölln der Fall war. Allerdings wurde Neukölln daraufhin wirklich cool. Bei Marseille ist es jedoch anders. Wenn ich mir bei Stau mal das Navi angemacht habe, bin ich durch Gegenden gefahren, die ich so in Berlin noch nie gesehen habe: Straßen gesäumt von Müllbergen, in denen man das Elend förmlich spüren kann. Außerdem arbeite ich in einem Viertel, in das wohl kaum ein Berliner ziehen würde; es gilt als ziemlich arm, und nette Cafés oder ähnliche Annehmlichkeiten sind rar.
Doch was für uns Privilegierte nicht gut genug scheint, ist für andere schon schick: Die Schule, an der ich als Lehrerin tätig bin, ist eine katholische, vom Staat finanzierte Privatschule. Im französischen Schulsystem sind solche Schulen normalerweise der Elite vorbehalten. Doch hier wird die katholische Mission sozial verstanden, was ich sehr schätze. Es gehen fast ausschließlich Kinder aus den berühmt-berüchtigten „Quartiers“ zur Schule. Der Direktor meinte bei der Einstellung zu mir, sie kämen aus Sicherheitsgründen hierher, da sie in den ihnen zugewiesenen Schulen nicht sicher seien. Ich selbst hatte schon viel über die „Quartiers Nord“ gehört. Auch in den Nachrichten ist oft von Gewalt die Rede. Und auch wenn Marseille als die gefährlichste Stadt Europas gilt, empfand ich das oft als übertrieben, da ich in all den Jahren noch nie etwas Bedrohliches erlebt oder wahrgenommen habe.
Doch die Realität holte mich ein, als ich mit meinen Schülern über ihre Wohnsituationen sprach. Ich war schockiert zu sehen, wie viel Wahrheit in den Gerüchten über die Quartiers steckt und dass es die Lebensrealität der Kinder ist, die ich täglich betreue. Sie leben in berühmten Cités wie „Les Laurier“ oder „Frais-Vallon“, in die man als Außenstehender gar nicht hineinkommt. Diese Viertel sind durch Barrikaden aus Autoreifen und anderen improvisierten Barrieren abgesichert. Betritt man diese Gebiete als Außenstehender, wird man sofort nach dem Grund seines Besuchs gefragt. An den sozialen Hochhäusern (HLMs) patrouillieren Aufseher, die bei Anzeichen für Polizeipräsenz Signale austauschen. Viele Kinder haben hier bereits Traumatisches erlebt und berichteten mir von ihren Ängsten.
Man bekommt von alldem nicht so viel mit, wenn man als Tourist in den besseren Vierteln unterwegs ist oder als Lehrer in nicht ganz so schicken Vierteln arbeitet. Doch diese Realität zeigt, wie kontrastreich die Stadt ist und erklärt auch, warum Marseille sich nicht so hip entwickeln kann wie andere Städte: Die Gegensätze sind einfach zu groß.
Ja, der Vergleich zwischen Berlin und Marseille scheint berechtigt. Ich glaube jeder Berliner würde sofort seine Wohnung tauschen, wenn es denn so einfach wäre wie hier. Schade. Berlin am Meer bleibt ein Traum..